Marie Tharp: Pionierin der Kartographie
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Mit ihrer Leidenschaft für die Kartografie trägt die US-Amerikanerin Marie Tharp zu einer zentralen Erkenntnis über die Erde bei. Als eine der ersten Wissenschaftlerinnen in der Geologie beweist sie die Kontinentaldrift. Sie vervollständigt das Bild vom Meeresboden – unbeeindruckt von denen, die das für unvereinbar mit der gängigen Lehre halten.
Marie Tharp ordnete ihre Erkenntnisse einst selbstbewusst wie folgt ein: „Ich glaube, unsere Karten haben zu einer Revolution im geologischen Denken beigetragen, die in gewisser Weise mit der kopernikanischen Revolution vergleichbar ist.“ Der Grundstein für ihr wissenschaftliches Interesse wird früh gelegt: Ihr Vater William Edgar Tharp arbeitet als Bodengutachter für das US-Landwirtschaftsministerium. Bereits in jungen Jahren hilft das 1920 geborene wissbegierige Einzelkind dem Vater bei der Arbeit und lernt dabei nicht nur das Kartografieren, sondern sieht auch unterschiedlichste Landschaften. „Ich schätze, das Erstellen von Karten lag mir im Blut“, schrieb sie später. Der väterliche Beruf erfordert zahlreiche Umzüge der Familie. Bis zum High-School-Abschluss 1936 hat Marie knapp zwei Dutzend Schulen besucht. Ihr Vater rät ihr zu einem Beruf, der Freude bereitet und Geld einbringt. Also macht sie 1943 an der Ohio University den Abschluss in Englisch und Musik sowie vier Nebenfächern, um Lehrerin zu werden – genau wie ihre Mutter Bertha Louise Tharp, die starb als Marie 15 Jahre alt war.
Kurz darauf lenkt der Zweite Weltkrieg ihr Leben in eine andere Bahn: „Ohne Pearl Harbor hätte ich nie die Chance bekommen, Geologie zu studieren.“ 1943 sucht die Erdölindustrie Frauen – weil sich mit Kriegseintritt der USA immer mehr junge Männer zur Front melden, sollen sie deren Platz in der Arbeitswelt einnehmen. Marie Tharp ist eine von zehn Bewerberinnen ihres Jahrgangs und macht 1944 den Master in Erdölgeologie an der University of Michigan. Danach arbeitet sie bei der Standard Oil & Gas Company in Tulsa, Oklahoma. Ihr Ehrgeiz bleibt ungestillt: 1948 folgt ein Abschluss in Mathematik an der Universität Tulsa.
Im Herbst 1952 macht die Geologin durch die akribische Analyse von Echolotungsdaten erstmals die Landschaft der Tiefsee sichtbar. Insgesamt entstanden auf diese Weise sechs Profile des Nordatlantiks. © GRANGER - Historical Picture Archive Alamy Stock Foto
Vier Jahre später bekommt sie eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lamont Geological Laboratory der Columbia University, dem heutigen Lamont-Doherty Earth Observatory of Columbia. Bald arbeitet Tharp dort ausschließlich mit dem Geologen Bruce C. Heezen zusammen, für den sie Meeresbodenprofile zeichnet. Basis sind von 1946 bis 1952 per Echolot im Nordatlantik gesammelte Daten: Hochfrequenztöne werden zum Meeresboden geschickt, die zeitliche Differenz der so verursachten Echos wird aufgezeichnet. Die endlosen Zahlenreihen sollen von Marie Tharp in möglichst detaillierte und vollständige Profile umgewandelt werden. Gemeinsam mit einer Kollegin überträgt sie die Daten im Maßstab 1:1.000.000 an Laborstehtischen auf spezielle Karten. In einem aufwändigen Prozess entstehen so sechs transozeanische Profile des Nordatlantiks. Wo Daten fehlen, interpretiert sie mithilfe ihrer geologischen Kenntnisse und einer laut Fachwelt bis heute frappierenden Intuition. Auf allen Profilen bemerkt sie eine v-förmige Vertiefung, eine Art Riss. Das könnte der Beweis für die Kontinentalverschiebung sein, bei der sich die Kontinente der Erde relativ zueinander bewegen, als würden sie über den Ozeanboden driften. Diese Theorie gilt damals als wissenschaftliche Ketzerei – wer sie vertritt, kann den Job verlieren. Ihr Kollege Bruce C. Heezen tut Marie Tharps Interpretation anfangs als „Girls Talk“ ab, wie alle anderen glaubt er an einen größtenteils flachen, strukturlosen Meeresboden. Doch Tharp lässt sich nicht unterkriegen: Acht Monate später akzeptiert Heezen die Idee endlich und genehmigt die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse. Diese trägt seinen Namen sowie den von Maurice Ewing, dem Gründungsdirektor von Lamont – der von Marie Tharp fehlt.
Mit ihrer Forschung lüftet sie eines der großen Geheimnisse der Erde – und lässt sich auf dem Weg zur Erkenntnis nicht unterkriegen.
Diese 1957 veröffentlichte Karte lüftet eines der großen Geheimnisse der Erde, zeigt Form, Maßstab und Struktur der bisher unergründlichen Tiefsee. Der Meeresboden wird als physiografisches Diagramm dargestellt, als würde der Grund ohne Meerwasser aus einem tief fliegenden Flugzeug gesehen. In einem multidisziplinären Ansatz wurden dafür Daten aus verschiedenen Quellen, jedoch immer im gleichen Maßstab genutzt. Der 1951 erfundene Präzisionstiefenrekorder etwa unterscheidet im Gegensatz zum Echolot zwischen glatter und rauer Textur, erfasst Berge, Steilhänge und Sedimentverwehungen unter Wasser. Somit markiert die Karte den Beginn der plattentektonischen Revolution und ändert das Bild vom Meeresboden auch jenseits der Wissenschaft. Erst 1968 darf Marie Tharp selbst ein Forschungsschiff besteigen, um auf Tuchfühlung mit dem Rift Valley zu gehen. Davor gelten Frauen an Bord als Unglücksbringer. Sie selbst erklärte einmal: „Ich habe die meiste Zeit meiner Karriere als Wissenschaftlerin im Hintergrund gearbeitet, aber ich hege absolut keine Ressentiments. Ich dachte, ich hätte Glück gehabt, einen so interessanten Job zu haben.“ Dazu passen Schilderungen von Weggefährten, die die rothaarige junge Frau als fröhlich, brillant und völlig unterschätzt beschrieben. 1977 gelingt mittels zahlreicher weiterer Daten und Technik ein nächster Meilenstein: die Veröffentlichung der Karte namens World Ocean Floor, eine Kooperation von Marie Tharp, Bruce C. Heezen und dem österreichischen Grafiker und Landschaftsmaler Heinrich C. Berann. Nur ein einziger Drucker im Land ist fähig, die Größe von knapp 1x1,80 m zu drucken. Die Kosten liegen damals bei 40.000 US-$. Doch Marie Tharp, unzufrieden mit der ersten Version, lässt ein zweites Mal drucken.
Die erste wissenschaftliche Karte des Atlantischen Ozeans: Erstellt von Bruce Heezen und Marie Tharp im Jahr 1977. © Library of Congress, Geography and Map Division
Am Lamont-Institut war Marie Tharp knapp 30 Jahre angestellt, doch Anerkennung wurde ihr erst gegen Ende ihres Berufslebens zuteil. Sie erhält mehrere Awards und Ehrungen, etwa 2001 den ersten „Lamont Heritage Award“ für ihr Lebenswerk. Auch nach ihrem Tod im Jahr 2006 mit 86 Jahren erfährt sie Wertschätzung. So inkludiert Google Earth ihre Karte 2009. Ihre frühere Wirkungsstätte ruft 2004 das MarieTharp-Stipendium für Frauen und 2019 die Marie-Tharp-Forschungsprofessur ins Leben. Eine Biografie über sie erscheint 2013 und rund um ihren 100. Geburtstag 2020 werden drei ihr gewidmete Kinderbücher veröffentlicht. Zuletzt erhält im März 2023 ein Forschungsschiff der US-Marine ihren Namen.
Die Vision und das Vermächtnis der Wissenschaftspionierin sind bis heute inspirierend. Ihre Karten sind trotz des technischen Fortschritts nach wie vor erstaunlich akkurat und damit weiterhin relevant für heutige Projekte. So nutzt auch das UNNachhaltigkeitsprojekt „Seabed 2030“ Marie Tharps Grundlagenforschung, um die Kartierung des gesamten Meeresbodens bis zum Beginn des neuen Jahrzehnts zu realisieren.
Text: Kerstin Radtke