Einleitung

Die Nachricht erregte Aufsehen weit über die Fachwelt hinaus: Ende 2019 präsentierte der US-Technologiekonzern Google einen Quantencomputer, der erstmals schneller ist als einer der leistungsstärksten Supercomputer – und zwar um das Milliardenfache. Hat Google damit die Tür zu einer neuen IT-Ära aufgestoßen?

Ein Blick in das Forschungslabor, in dem Googles neuer Quantencomputer namens Sycamore getestet wird, offenbart eine Armada elektronischer Geräte, armdicke Kabelbäume und im Zentrum ein Kryostat, eine Kältemaschine. Sie alle umgeben einen unscheinbaren, gerade einmal 1 cm² kleinen Chip, der auf fast –273,15 °C gekühlt wird, den absoluten Nullpunkt der Temperatur. „Je größer ein Objekt ist, umso schwieriger wird es, seine Quanteneigenschaften aufrechtzuerhalten. Die kleinste Störung, zum Beispiel durch Stöße von Fremdatomen oder elektromagnetische Felder, lässt das Objekt zu ganz gewöhnlicher Materie kollabieren“, begründet Laborleiter Dr. Hartmut Neven den enormen technischen Aufwand. Zudem funktioniert Sycamore nur, solange seine Schaltkreise nahe dem absoluten Nullpunkt supraleitend sind, also den elektrischen Strom ohne Widerstand fließen lassen.

Wie ist ein Quantencomputer aufgebaut?

Der Sycamore-Chip verfügt über 53 Recheneinheiten in Form von supraleitenden Miniaturschwingkreisen, sogenannten Transmons. Als Quantenobjekte schwingen sie nicht mit jeder beliebigen Frequenz, sondern nur mit diskreten Eigenfrequenzen. Wie ein klassischer Mikrochip nutzt Sycamore für Berechnungen die Binärwerte 0 und 1. Während diese aber normalerweise eindeutig einem der beiden Zustände – stromleitend oder stromsperrend – zuzuordnen sind, repräsentiert im Quantenchip dagegen das Quantenbit, kurz Qubit, eine Überlagerung beider Zustände.


 

Welche Eigenschaften haben Quantenobjekte? 

Es ist nicht einfach, sich dies vorzustellen. Denn Quantenobjekte verfügen neben dieser Superposition, also der Überlagerung mehrerer möglicher Zustände, über eine Reihe weiterer bizarrer Eigenschaften, die in krassem Gegensatz zu den Alltagserfahrungen stehen, die wir mit gewöhnlichen Objekten machen. So sagte einst schon Richard Feynman, Nobelpreisträger 1965 und Pionier der Quantenphysik: „Wer behauptet, die Quantenphysik verstanden zu haben – der hat sie nicht verstanden.“ Zum Beispiel kann sich ein Quantenobjekt an verschiedenen Orten gleichzeitig aufhalten und ein Physiker kann durch wiederholtes Messen lediglich Wahrscheinlichkeiten dafür angeben, es hier oder dort anzutreffen. Erst in dem Moment, in dem er den Ort mithilfe einer Messung bestimmt, entscheidet sich das Objekt für einen der vielen möglichen Orte – und verliert zugleich seine Quanteneigenschaften: Es kollabiert zu einem Objekt unserer Alltagswelt. Ebenso exotisch ist das Phänomen der Verschränkung: Quantenobjekte lassen sich so miteinander koppeln, dass die Eigenschaften des einen jene der anderen bestimmen. Verändert man den Zustand eines Objekts, ist damit augenblicklich der Zustand der anderen festgelegt – unabhängig von der Entfernung zwischen ihnen und ohne dass sie Informationen austauschen.

Ein klassischer Prozessor mit 20 Bits kann genau eine Binärkombination aus 20 Nullen und Einsen darstellen, während ein Quantenprozessor mit 20 Qubits bereits mit über 1 Million Kombinationen arbeitet. Beim Sycamore von Google ist die Rechenleistung noch um ein Vielfaches höher.

Wie funktioniert ein Quantencomputer?

Quantenphysiker erfassen Superposition und Verschränkung, indem sie Quantenobjekte mathematisch als ausgedehnte Wellen behandeln. Dann lassen sich ihre Eigenschaften mit sogenannten Wellenfunktionen eindeutig beschreiben. Die unterschiedliche Arbeitsweise eines klassischen und eines Quantenprozessors lässt sich am Beispiel eines Karteikastens mit 1.000 Karteikarten veranschaulichen: Ein Computer soll die eine Karte finden, auf der sich ein Wort befindet, das auf allen anderen Karten fehlt. Der klassische Rechner muss die Karteikarten nacheinander analysieren, bis er die richtige findet. Mit viel Glück ist die erste Karte die richtige, mit viel Pech die letzte. Im Mittel braucht er 500 Arbeitsschritte bis zum Treffer. In einem Quantencomputer wird jeder Karteikarte eine Wellenfunktion zugeordnet, die alle Informationen über den Karteninhalt enthält. Die Superposition aller 1.000 Wellenfunktionen ergibt eine Super-Wellenfunktion mit sämtlichen im Karteikasten vorhandenen Informationen. Ein einziger Arbeitsschritt, nämlich die Analyse der Super-Wellenfunktion, genügt, um den Ort des Wortes zu identifizieren.

Quantencomputer: Praxisbeispiel Sycamor von Google

Um Sycamore zu testen, hat Google eine fiktive Aufgabe ersonnen, die letztlich ohne praktischen Nutzen war – es ging lediglich darum, zu prüfen, ob der Prozessor tatsächlich mit Quanten rechnet. Jede aktive Recheneinheit auf dem Chip, die oben erwähnten Transmons, erzeugte bei diesem Verfahren einen zufälligen Binärwert. Alle Werte zusammen liefern einen Zufallsstring aus Nullen und Einsen. Entscheidend ist, dass in einem Quantensystem nicht alle möglichen Stringvarianten gleich wahrscheinlich sind, sondern einige häufiger, andere seltener auftreten. Tatsächlich stimmten die von Sycamore errechneten Strings nahezu perfekt mit den quantenphysikalisch zu erwartenden überein – der Beweis für Quantentätigkeit war erbracht. Werden alle 53 vorhandenen Transmons aktiviert, dann liefert Sycamore in 200 s 1 Mio. Strings mit jeweils 53 Zeichen. Für jeden String sind etwa 9 Brd. Varianten möglich.


 

Quantencomputer im Konkurrenzkampf

Die Google-Forscher schätzen, dass einer der schnellsten Supercomputer der Welt, der von IBM 2018 gebaute und am staatlichen Oak Ridge National Laboratory in Tennessee betriebene Summit, 10.000 Jahre bräuchte, um alle Varianten durchzurechnen. IBM-Entwickler, die selbst mit Hochdruck an einem programmierbaren Quantencomputer arbeiten, reagierten postwendend auf die von Google behauptete Quantenüberlegenheit: Mit optimierten Algorithmen würde Summit die Aufgabe in zweieinhalb Tagen lösen. Google-Experte Neven hält dagegen: „Selbst wenn IBM recht hätte – würden wir unseren Chip um ein weiteres Transmon erweitern, geriete Summit sofort wieder hoffnungslos ins Hintertreffen.“

 

Ob 10.000 Jahre oder 2,5 Tage – beides ist deutlich mehr als 200 s. Superposition und Verschränkung verschaffen dem Quantencomputer mit bescheidenen 53 Recheneinheiten diese haushohe Überlegenheit gegenüber einem Supercomputer, der mit 9.000 Prozessoren modernster Bauart arbeitet, jeder mit 8 Mrd. Transistoren bestückt. Die außerordentliche Leistung des Google-Teams besteht darin, Bedingungen geschaffen zu haben, unter denen ein System aus 53 Quantenobjekten ausreichend lange stabil ist. Denn in der Realität gibt es zwei starke Feinde, die den Kollaps der Wellenfunktionen schon herbeiführen, bevor die Qubits ihre Arbeit getan haben und ausgelesen werden können: das Rauschen und die Dekohärenz.

Am Quantum AI Lab in Mountain View, Kalifornien, forschen etwa 70 Experten an supraleitenden Quantenchips. Zudem soll ein Quantum Data Center externen Wissenschaftlern den Online-Zugriff auf Quantenprozessoren mit mehr als 50 Qubits ermöglichen.  

Wie kann ein Quantencomputer durch Rauschen gestört werden?

Noch gefährlicher könnte dem Quantencomputer ein zweiter Feind werden: die Quantendekohärenz. Damit sind irreversible Zustandsänderungen bis hin zum vollständigen Verlust der Quanteneigenschaften (der „Kohärenz“) gemeint, die beim Kontakt eines Quantensystems mit seiner Umwelt unweigerlich stattfinden. Auf Sycamore kann die Kohärenz immerhin für einige Mikrosekunden aufrechterhalten werden. Zukünftige größere Quantencomputer werden deutlich längere Kohärenzzeiten haben müssen. Skeptiker meinen jedoch, dass Dekohärenz ab einer bestimmten Größe eines Quantensystems unausweichlich eintritt und deshalb ein fehlerkorrigierter Quantenprozessor nie gebaut werden kann.

Warum stellt eine Quantendekohärenz eine Herausforderung für Quantencomputer dar? 

Noch gefährlicher könnte dem Quantencomputer ein zweiter Feind werden: die Quantendekohärenz. Damit sind irreversible Zustandsänderungen bis hin zum vollständigen Verlust der Quanteneigenschaften (der „Kohärenz“) gemeint, die beim Kontakt eines Quantensystems mit seiner Umwelt unweigerlich stattfinden. Auf Sycamore kann die Kohärenz immerhin für einige Mikrosekunden aufrechterhalten werden. Zukünftige größere Quantencomputer werden deutlich längere Kohärenzzeiten haben müssen. Skeptiker meinen jedoch, dass Dekohärenz ab einer bestimmten Größe eines Quantensystems unausweichlich eintritt und deshalb ein fehlerkorrigierter Quantenprozessor nie gebaut werden kann.

Sycamore erhält Konkurrenz von Honeywells Quantencomputer

Hartmut Neven widerspricht: „Alle unsere Experimente mit supraleitenden Qubits lassen für das von uns gewählte Chipdesign keine Grenze der Skalierbarkeit erkennen.“ Auf der Basis der Erfahrungen des Quantum-AI-Teams seit 2012 sagt er ein doppelt exponentielles Wachstum voraus. Als Nevens Gesetz hat diese These Eingang in die Fachwelt gefunden. Danach würde bereits in zehn Jahren ein programmierbarer Quantenchip mit 1 Mio. Qubits zur Verfügung stehen. Aber der muss nicht zwingend Sycamore ähneln. Andere Konzepte zur Realisierung eines Quantenrechners liegen mindestens gleichauf im Rennen. Nur wenige Monate nach Googles Paukenschlag Ende vergangenen Jahres sorgte das US-Technologieunternehmen Honeywell im Frühjahr 2020 für die nächste Schlagzeile: Das 100-köpfige Team präsentierte einen Quantenchip mit einem Quantenvolumen von 64 – und damit nach eigener Darstellung den leistungsfähigsten Quantencomputer der Welt.

 

Als Leistungsmesswert nutzte Honeywell das von IBM definierte Quantenvolumen, in das neben der Anzahl Qubits weitere Parameter eingehen: unter anderem die Güte von Verschaltung, Programmierbarkeit und Auslesbarkeit der Qubits, die Qualität der Schnittstellen zur Außenwelt sowie die Verlängerung der Kohärenzzeiten und die Minimierung von Messfehlern und Störungen.

Welches Quantensystem wird das Rennen machen?

Honeywells Qubits sind keine Transmons, sondern Ytterbium- und Barium-Ionen, die von Magnetfeldern bei Raumtemperatur in der Schwebe gehalten werden, so genannte Ionenfallen. Kontrolliert werden diese „heißen Qubits“ mit Hilfe von Laserstrahlen. Die extrem teure Kühlung auf nahezu 0 Kelvin entfällt. Ein weiterer Clou: Der Honeywell-Chip enthält nur 6 Qubits, die durch eine ausgeklügelte, als Quantum Charge Coupled Device bezeichnete Chiparchitektur auf hohe Leistung getrimmt werden. Sechs Qubits mit einer derart hohen Performance sind eine solide Basis, um die Rechenleistung durch Anfügen weniger weiterer Qubits drastisch zu erhöhen. Ob aber diese Skalierung nicht ebenfalls irgendwo an einer unüberwindbaren Barriere scheitert, ist derzeit genau so offen wie bei Sycamore. Welches System letztlich das Rennen macht, ist völlig offen.

 

Vielleicht hat ein anderes Quantensystem bessere Chancen, das allerdings noch nicht mit publikumswirksamen Schlagzeilen aufwarten kann: An den Universitäten Princeton und Sydney forschen Physiker an nanometergroßen Silicium-Transistoren, die durch ein einzelnes Elektron geschaltet werden. Die Tatsache, dass der Spin des Elektrons, d.h. sein quantenmechanischer Eigendrehimpuls, parallel oder antiparallel zu einem äußeren Magnetfeld ausgerichtet werden kann, macht es zu einem Qubit. Wenn es gelänge, solche Qubit-Transistoren in größeren Kollektiven zu beherrschen, wäre die Massenproduktion im Gegensatz zu anderen Quantensystemen kein Problem: Die lithographischen Verfahren zur Strukturierung von Mikrochips stehen zur Verfügung.

Quantencomputer, Quantensensoren, Quantensimulatoren und vieles mehr

Forschungslabors und Unternehmen überall auf der Welt suchen fieberhaft nach dem Königsweg. Das Ziel ist verlockend: der Quantenrechner, der für nützliche Berechnungen und die Lösung hochgradig vernetzte Probleme der nahen Zukunft taugen würde, an denen selbst die leistungsfähigsten klassischen Computer scheitern werden: etwa die Organisation einer ökologisch verträglichen Nahrungsmittelproduktion für eine Menschheit, die bald die 10-Mrd.-Marke überschreiten wird. Oder die Entwicklung eines globalen Konzepts zur Bewältigung der menschengemachten Klimakrise.


 

Wie sieht die Zukunft von Quantentechnik aus und wo kommt sie zum Einsatz?

Die Quantenüberlegenheit von Sycamore wird die weitere Erforschung des Quantencomputing beflügeln, das Verständnis der Quantenphysik vertiefen und andere Anwendungen der Quantentechnik befruchten: Quantensensoren mit ungeahnter Empfindlichkeit für extrem präzise Messungen in der medizinischen Diagnostik oder ultragenaue Zeitmessungen für die Navigation. Quantensimulatoren werden komplexe Moleküle modellieren und deren Eigenschaften als Medikamente, Düngemittel, Katalysatoren, Batteriekomponenten und vieles mehr optimieren. Quantenkommunikation und Quantenkryptografie werden das absolut abhörsichere Internet ermöglichen. 

Ob der Quantencomputer die IT-Welt in wenigen Tagen, in 100 Jahren oder nie revolutionieren wird, ist beim heutigen Stand des quantentheoretischen Wissens allerdings nicht seriös vorauszusagen. Fest steht aber: Der Quanten-PC für jedermann wird angesichts des enormen technischen Aufwands noch lange auf sich warten lassen.

Dr. Hartmut Neven (56)

Geboren in Aachen, studierte Physik und Wirtschaftswissenschaften in Deutschland, Frankreich, Brasilien und Israel. 1996 promovierte er an der Ruhr-Universität Bochum im Bereich Neuroinformatik und wechselte 2006 zu Google. 2012 gründete er das dortige Quantum AI Lab, das er bis heute als technischer Direktor von Google Research leitet. 

Text: Dr. Ralf Schrank
Copyright Fotografie: Google

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